„Ich denke gerne über Dinge nach. Ich denke gerne außerhalb des Rahmens. Ich bin Stratege, das war ich immer schon.“
– Online Marketing Experte Joachim Graf
iBusiness-Gründer und Zukunftsforscher im Interview
Wir sprechen mit dem erfolgreichen Publizisten und Unternehmensgründer darüber, was ihn täglich antreibt und was im Leben wirklich wichtig ist. Er berichtet darüber, was ihn seine langjährige Erfahrung im Online Marketing gelehrt hat, erklärt, was Zukunftsforschung bedeutet und in welche Richtung sich die Medien entwickeln werden.
Das Gespräch mit Joachim Graf
OME: Viele Kunden verlassen sich heute lieber auf einen Spezialisten in einem bestimmten Fachgebiet. Unsere Agentur macht aber eigentlich alles im Bereich SEO. Was ist deine Meinung, was funktioniert besser?
JOACHIM GRAF: Netzwerke sind wichtig und werden auch immer wichtiger. Spezialisierung funktioniert in der Digitalisierung nicht mehr so gut. Man kann sich nicht nur auf ein Teilgebiet festlegen.
Das wird am SEO-Markt ganz deutlich. Wer sich mit SEO beschäftigt, beschäftigt sich mit vielen verschiedenen Themen.
Es ist unmöglich, als Einzelperson in all diesen Bereichen ein Experte zu sein. Deshalb brauchen wir Netzwerke.
Sonst hast du es irgendwann mit einem Thema zu tun, mit dem du dich nicht auskennst.
Ein Sprichwort lautet: Solange du ein Hammer bist, ist jedes Problem ein Nagel. Wenn du dann allerdings an eine Schraube gerätst, bekommst du Schwierigkeiten.
Wenn man jedoch auf ein Netzwerk zurückgreifen kann, hat man Werkzeuge für Nägel, Schrauben, Dübel – einen ganzen Werkzeugkasten.
Deshalb ist die Vernetzung von Spezialisten der einzige Weg, den Agenturen noch gehen können.
Das Netzwerken hat sich in den letzten 20 Jahren aber auch verändert, weil die Kampagnen komplizierter geworden sind.
Veränderungen im Online Marketing
OME: Inwieweit sind diese Veränderungen spürbar?
JOACHIM GRAF: Früher gab es im Marketing eine Brand Agentur und eine Lead Agentur. Hin und wieder wollte man einen Film drehen und hatte dafür noch eine Film Agentur.
Heute ist alles breiter gefächert. Wenn man heute eine Kampagne machen will, stecken dort bereits ein Dutzend Gewerbe drin.
Man braucht zahlreiche verschiedene Spezialisten, die auf unterschiedlichen Fachgebieten Experten sind.
Das wird schwierig, wenn du eine kleine Agentur hast und deshalb deine fähigen Mitarbeiter nicht voll auslasten kannst.
OME: Was meinst du, bei wie vielen Mitarbeitern wird die Koordination für den Geschäftsführer langsam schwierig?
JOACHIM GRAF: Ab 50 Mitarbeitern sollte man normalerweise eine zweite Führungsebene aufbauen. Das ist die Hürde, ab der man nicht mehr alles selbst machen kann.
Ab dann werden gerade im Dienstleistungsbereich Fähigkeiten und Fertigkeiten benötigt, die man normalerweise nicht hat.
Dann braucht man selbst keine Spezialisierungen mehr, sondern Managementfähigkeiten. Man muss darin gut werden, gute Personen zu finden, die ein Team führen können.
Diese Personen brauchen Führungsfähigkeiten und müssen gleichzeitig genau das können, was du vorher mit 15 bis 20 Leuten gemacht hast.
Bei dem Versuch, diese deutlich komplexeren Mitarbeiter strukturell zu führen, sind schon viele Agenturen gescheitert.
OME: Kommen wir mal zu dir: Wann hattest du deinen ersten Computer? Was war das für einer und was konntest du damit machen?
JOACHIM GRAF: Ich bin seit Anfang der 80er Jahre im Digitalwesen unterwegs.
Ich komme aus dem Journalismus. Das heißt: Texten, Schreiben. Das ist, was mich ursprünglich auch getrieben hat.
Am Anfang habe ich ganz normal mit Schreibmaschine geschrieben und neben dem Studium Artikel verkauft. Früher habe ich auch Schüler- oder Jugendzeitungen geschrieben.
Meine allererste Begegnung mit den digitalen Medien war Anfang der 80er Jahre, da war ich bei einem Freund, der für die Schülerzeitung gearbeitet hat. Ich war Jugendpressefunktionär und er hatte einen Testaccount von BTX, weil das 79/80 im Ruhrgebiet getestet wurde.
Das war mein erster Schritt in die digitale Welt.
Anfang der 80er habe ich mit einigen Freunden in einer Wohngemeinschaft gelebt und mir zusammen mit einem meiner Mitbewohner einen ZX81 mit 1.024 Byte Hauptspeicher gekauft.
Darauf lief ein Spiel und er hatte eine Folientastatur. Später konnte man den Speicher auf 8 KB und dann auf 64 KB erweitern.
Als ich mir meinen ersten eigenen Computer gekauft habe, um ihn als Textverarbeitungssystem zu nutzen, habe ich bereits studiert.
Es war ein Commodore 64 mit einem damals neuen Nadeldrucker, einer Floppy Disk mit 170 KB Speicher pro Diskette und einem Textverarbeitungssystem, das anders als der C64 auch 80 Zeichen konnte.
Und das habe ich dafür genutzt, erstmal meine Artikel zu schreiben. Das war an sich ein Schreibsystem.
Etwas später habe ich angefangen, Spiele zu programmieren, richtige Anwendungsprogramme zu schreiben und auch zu spielen.
OME: Du bist also in diese Branche eingestiegen, indem du einfach angefangen hast, zu programmieren?
JOACHIM GRAF: Ich fand allen voran die Technik spannend, ganz prinzipiell. Ich habe mich dann mit einem Tool beschäftigt und gemerkt, dass es das auch online gibt.
Wir hatten Zugang zu Großrechnersystemen, weil es neben dem CCC hier in München die Bayerischer Hackerpost gab.
Das war eine Gruppe, in der man programmieren und Online surfen konnte – quasi die Technikfreaks aus München.
Und dann gab es die Computer Artists Cologne und es gab den CCC. Das waren verschiedene Gruppen, die dann viel Verschiedenes gemacht haben.
Die Entwicklung der digitalen Medien
OME: Wie ist deine Laufbahn dann weitergegangen?
JOACHIM GRAF: Ich habe angefangen, mich mit dem Thema „Datenfernübertragung“ auseinanderzusetzen. Das heißt, ich habe Reportagen geschrieben, wie man online Multiuser Dungeons auf englischen Großrechnern gespielt hat.
Damals war alles textbasiert.
Da gab es schon die ersten Computerzeitschriften. Und ich war in der Redaktion von Happy Computer.
Jeder hatte einen Computer, das war schon relativ fortschrittlich. Da hat man dann mit einem Textverarbeitungssystem seine Artikel geschrieben.
Die wurden ausgedruckt, dann kamen sie zum Chef vom Dienst und er hat den Artikel auf Papier redigiert.
Der Artikel musste dann überarbeitet und erneut ausgedruckt werden, bis er schließlich per Diskette ins Layout ging. Das Ganze wurde auf einem Satzsystem gedruckt und ein Klebelayout erstellt.
Die Seiten wurden also manuell gefertigt und dann fotografiert, woraufhin das Heft gedruckt werden konnte.
OME: Hattest du damals schon den Wunsch, etwas ganz Großes aufzuziehen und einen eigenen Verlag zu haben? Oder hat sich das so entwickelt?
JOACHIM GRAF: Wir haben damals privat Mailboxsysteme betrieben, damit haben wir angefangen, etwas selbst zu machen.
Datenfernübertragung ist ja deutlich älter als das Internet. Das Internet kam viel später.
Als ich bei Happy Computer aufgehört habe, habe ich mich mit meinem Partner Daniel Treplin im Multimediabereich selbstständig gemacht. Wir haben uns gedacht: Lass uns doch mal einen Newsletter machen!
Dann haben wir angefangen.
Startups hatten es Anfang der 90er nicht so leicht. Wenn wir bei der Hausbank nach einem Kredit für einen Verlag zum Thema Multimedia gefragt haben, wurde der abgelehnt, weil zu der Zeit viele Computer Shops pleitegegangen sind.
Wir mussten also mit unserem Dispo eine Firma gründen – und das ist ohne Investoren gar nicht so einfach.
Wir haben einen Informationsdienst für Entwickler und Anwender eingerichtet. Damit haben wir uns bereits an die Agenturen und deren Kunden im Unternehmen gewendet.
Und als wir schon drei Jahre im Geschäft waren, bin ich über was gestolpert, das nannte sich Internet. Dann haben wir 1994 unsere erste Webseite online gestellt.
Online Marketing wurde erst viel später relevant. Am Anfang war das Web nichts anderes als eine Vernetzung von ganz wenigen Webseiten. Dann kamen die ersten Kataloge raus, unter anderem web.de, Yahoo und die ersten Suchmaschinen.
AlterVista war die erste Suchmaschine, die mit einem guten Index kam. Letztendlich wurde sie aber nur noch überladen und immer langsamer.
Erst dann kam Google. Mit der Einführung von Werbebannern haben dann auch Werbetreibende das Internet für sich entdeckt.
Damals gab es noch BTX, AOL und Compusurf als große Mailboxsysteme. Vorerst handelte es sich um geschlossene Systeme, die sich irgendwann dem Internet geöffnet haben.
Vorher wurde ganz viel Content Marketing über diese Plattform betrieben. Das begann Mitte der 90er Jahre.
E-Commerce gab es ja immer schon. Otto war immer führend in diesem Bereich. Deutsche Unternehmen sind, was E-Commerce angeht, weltweit schon immer mitführend gewesen.
Dann kam die zweite Welle der Agenturen. Die erste Welle waren die, die irgendwelche Webseiten online gestellt oder CD-ROMs gebaut haben.
Erst Ende der 90er kamen die ersten E-Commerce-Agenturen und 1999 gab es diesen großen Boom, der die Wirtschaft verändert hat.
Um 2003 wurden auch die Google AdWords entwickelt – Und das war schon vergleichsweise spät. Schon damals haben wir unseren Lesern gesagt, dass das ein ganz großes Ding wird.
Irgendwann kam Amazon mit seinem Affiliate-Programm. Das war eines der ersten, von denen wir auch gesagt haben, dass es eine große Zukunft haben wird.
Alle drei Jahre haben sich die Systeme rund um das Online Marketing verbessert. Die Unterschiede sind immer deutlicher geworden.
OME: Wie lange bist du jetzt genau im Geschäft?
JOACHIM GRAF: Seit 1991.
OME: Wann hast du für dich gemerkt, dass du Fortschritte machst, Erfolg hast und dein Unternehmen immer größer wird?
JOACHIM GRAF: Wir haben einfach angefangen. Nach und nach haben wir immer mehr Mitarbeiter eingestellt. Das ist so vor sich hingewachsen, weil wir vieles umsetzen wollten.
Irgendwann hatte ich dann einen Herzinfarkt, der mich dazu veranlasst hat, etwas mehr auf mich aufzupassen.
OME: Was treibt dich als Unternehmer an? Das Geld?
JOACHIM GRAF: So groß sind wir gar nicht, vielleicht 20 bis 25 Mitarbeiter. Geld war mir nie besonders wichtig.
Ich mache unter anderem Projekte in Afrika und ein afrikanischer Freund hat mir in diesem Zusammenhang mal gesagt: „Geld ist nur eine Ressource.“
Und das ist genau richtig. Da sind Dinge wie Wasser, Sonne oder Gesundheit schon um einiges bedeutender.
Es gibt Ressourcen, wie etwa einen Schreibtisch, die du zwar brauchst, die aber im Wesentlichen nicht wichtig sind.
Geld verdienen finde ich auch wichtig, aber nicht für mich persönlich. Ich habe eine Hilfsorganisation gegründet: helpingpeople.org. Geld für Afrika, Geld für andere Menschen.
Ich möchte also deshalb Geld verdienen, damit ich anderen etwas zurückgeben kann. Mein Beweggrund war immer, die Dinge zu machen, die ich für richtig halte.
Mir war nicht wichtig, wie viele Leute ich letztendlich beschäftige. Natürlich bin ich für meine Mitarbeiter verantwortlich und möchte ihnen einen sicheren Job und eine angenehme Arbeitsatmosphäre bieten.
Ich möchte, dass die Beschäftigten bei uns auch ein Privatleben haben. Dass sie mal gehen können, wenn das Kind krank ist und dass sie sich bei der Arbeit nicht ausbrennen.
Ich könnte aus meinem Geschäft sehr viel mehr Gewinn ziehen, das ist mir aber nicht wichtig. Wichtig ist, dass die Menschen hier gut verdienen, aber gleichzeitig nicht 70 Stunden die Woche arbeiten müssen.
Vielleicht könnte man dazu auch „New Work“ sagen. Wir machen das seit 20 Jahren so, weil uns wichtig ist, dass hier alles funktioniert.
OME: Was hat sich für dich im Umgang mit Kunden bewährt? Worauf sollte man als guter Unternehmer achten?
JOACHIM GRAF: Ich bin ein großer Fan davon, immer einen synergetischen Ansatz zu finden, egal mit wem auch immer ich umgehe. Das geht mir auch mit Kunden so.
Wir haben natürlich Anzeigen-Kunden. Und mein Ansatz ist, zu sagen: Wie kann ich dir helfen?
In unseren Mediadaten steht, dass wir keine Anzeigen verkaufen wollen – wir wollen herausfinden, was unser Kunde braucht.
Anschließend frage ich nach dem Budget. Auf dieser Basis kann ich mit dem Kunden zusammen eine sinnvolle Strategie entwickeln.
Unser Ansatz im Unternehmen ist daher, immer partnerschaftlich und offen mit allen umzugehen.
Natürlich habe ich auch ein Interesse daran, dass sich Kunden nach der Beratung dazu entscheiden, eine Premiummitgliedschaft abzuschließen.
Ich möchte ja mein Produkt verkaufen, aber das geht auf unterschiedliche Arten. Wichtig ist, dass man gemeinsam mit dem Kunden schaut, wo man zusammenkommt.
OME: Was macht eure Agentur so besonders?
JOACHIM GRAF: Unser Vorteil ist, dass wir Zukunftsforschung betreiben. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal. Wir wissen immer, was so in den nächsten fünf Jahren passiert.
Das ist unser Produktversprechen. Wir machen das seit Mitte der 90er-Jahre als Premiumdienst. Das heißt der Content, den wir machen, hat auch seinen Preis.
Wir waren den klassischen Fachzeitschriften da immer zehn bis fünfzehn Jahre voraus. Ich habe ja mittlerweile relativ viel Erfahrung und habe schon einiges gesehen.
Wenn wir inzwischen Aussagen darüber treffen, welche Dinge digital werden oder analog bleiben, dann schenkt man uns da Vertrauen. Einfach, weil wir wissen, warum bestimmte Verfahren geschehen und andere nicht.
Und wir haben natürlich noch einen draufgesetzt: Du musst dich bei uns registrieren, wenn du irgendwas lesen willst. Ich habe also seit zehn Jahren ein funktionierendes Leadmanagement Tool.
Weil wir wissen, was funktionieren wird und was nicht, richten wir natürlich unser Geschäftsmodell darauf aus. Das bedeutet, dass wir uns alle drei bis vier Jahre neu erfinden müssen.
Wir sind auf einer Metaebene aktiv. Das heißt, dass das Online Marketing für uns nur einer von mehreren Bausteinen ist. Es geht immer um diese drei Hauptthemen: Technik, Medien und Wirtschaft.
Wir überlegen uns immer aufs Neue: Wie kannst du damit Geld verdienen und wie machst du das erfolgreich?
Das bedeutet, dass wir ständig über den Tellerrand hinausgucken. Das ist das, was ich mag. Ich denke gerne über Dinge nach. Ich denke gerne außerhalb des Rahmens. Ich bin Stratege, das war ich immer schon.
OME: Was bedeutet Zukunftsforschung also für dich?
JOACHIM GRAF: Durch die Zukunftsforschung erfährst du zu Beispiel: Welche Trends gibt es momentan? Was ändert sich schnell? Und worin spiegelt sich der Kern von etwas wider?
So kannst du Veränderungen nachvollziehen und verstehen, wieso gewisse Dinge gleich bleiben werden.
Dadurch kann leichter entschieden werden, ob du auf Google, Amazon oder LinkedIn Werbung schalten solltest oder ob du in Content Marketing investieren solltest.
Was gleich bleibt, ist, dass du ein Unternehmen hast, das bestimmte Botschaften sendet, die an bestimmte Zielgruppen gerichtet werden müssen. Du hast dann die Aufgabe, die Zielgruppen so anzusetzen, dass relevante Inhalte an die passenden Menschen vermittelt werden.
Ich sage als Zukunftsforscher immer: Spannend ist nicht das, was sich verändert, spannend ist immer das, was gleich bleibt.
OME: Welche Veränderungen siehst du in der Zukunft der digitalen Medien? Und was wird gleich bleiben?
JOACHIM GRAF: Wir werden in 50 Jahren sicher andere Formen von Kommunikation verwenden als heute, aber bestimmte Dinge werden sich nicht verändern.
Der Handel zum Beispiel, hat sich im Kern nicht verändert. Der Händler weiß, was sein Kunde will und muss ihn dann auf eine persönliche Art ansprechen.
Nur die Methode und die Technik haben sich gewandelt. So nennen wir das heute zum Beispiel Dialogmarketing und verwenden dafür eine Datenbank.
Das Entscheiden über Relevanz und Irrelevanz ist dadurch auch viel leichter geworden und Trends lassen sich schneller erkennen.
Die Welt wird in 30 Jahren sicher deutlich anders aussehen. Und welche Rolle Marktplätze dann noch spielen, welche Aufgaben die haben, kannst du nicht genau sagen.
Manche Dinge können prognostiziert werden, andere hingegen nicht, weil es dort zu große Abweichungen gibt.
Die ganzen großen Firmen werden sicherlich auch nicht ewig bestehen, oder sich zumindest wandeln. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird irgendwann jemand Amazon überholen.
OME: Wo stellst du fest: Das hat sich an meiner eigenen Arbeitsweise verändert?
JOACHIM GRAF: Inzwischen ist vieles von mir wirklich nur noch online. Ich speichere beispielsweise meine Dateien nicht mehr auf USB-Sticks, sondern habe alles in der Dropbox.
Und ich gehe davon aus, dass ich überall wo ich hingehe zumindest einen Internetanschluss kriege. Wenn ich keinen habe, nehme ich mein Smartphone und nutze Hot Spot.
Man braucht im Prinzip kein Trägermedium mehr. Ich habe in dieser Sache die verschiedensten Entwicklungen miterlebt.
OME: Wie schaffst du es, in deinem so breiten Aufgabenspektrum bewusst auch mal abzuschalten und nicht mehr an die Arbeit zu denken?
JOACHIM GRAF: Freitagnachmittag klinke ich mich aus und beschäftige mich erst Montagmorgen wieder mit der Arbeit.
Seit vielen Jahren sage ich: Am Wochenende arbeite ich nicht. Punkt. Da gibt es nur ganz wenige Ausnahmen.
Die E-Mails in meinem Postfach sind am Montag auch noch da. Wenn mir dann Ideen kommen oder Dinge einfallen, die zur Arbeit gehören, schreibe ich mir das einfach auf und habe den Kopf wieder frei.
Ich mache auch sehr gerne Kunst, Holzschnitte zum Beispiel. Die hängen auch in meinem Büro. Ich stelle meine Kunst auch aus und habe dafür eine eigene Webseite, das ist meine zweite Profession.
OME: Was wäre deine Message an jemanden, der am Anfang des Berufslebens steht?
JOACHIM GRAF: Suche dir eine Berufung und keinen Job.
Ich habe sogenannte Serial Entrepreneurs, also Seriengründer, nie verstanden. Ich möchte das gar nicht werten, aber ich persönlich habe das einfach nie verstanden.
Mache das, was du wirklich willst, und mache es vor allem nicht fürs Geld. Der zweite Schritt ist, sich zu fragen: „Was kannst du eigentlich tun, damit die Welt besser wird?“
Ich weiß, dass mein Hauptberuf die Welt nicht wirklich besser macht – ich verbessere höchstens die Welt meiner Mitarbeiter, indem ich ihnen mehr Freiraum biete. Deshalb habe ich mein Afrikaprojekt ins Leben gerufen.
Irgendwann scheidet man aus diesem Leben aus und dann fragt man sich: Wie hast du diese Welt verbessert? Diesen Gedanken sollte man immer mit einkalkulieren, wenn man sich für einen Beruf entscheidet.
Operativ würde ich Berufseinsteigern raten, sich Leute zu suchen, die komplementär zu einem sind. Uns hat zum Beispiel immer jemand gefehlt, der dazu in der Lage ist, Geld an Land zu ziehen.
Wir haben 20 Jahre unserer Unternehmensgeschichte damit verbracht, die Schulden abzubezahlen, die wir am Anfang angehäuft haben.
Das bedeutet im Klartext: Wenn du dich mit Marketing auskennst, suche dir jemanden, der sich mit Finanzen auskennt. Wenn du ein Techie bist, suche dir einen Marketing Experten. Und so weiter.
Du brauchst Marketing, Vertrieb, Business und Human Resources. Diese Fähigkeiten können sich auf vier Leute verteilen oder auch nur auf zwei, aber du brauchst eine Kombination aus ihnen allen, um dich mit einem Erfolgreichen Unternehmen selbstständig zu machen.
Wenn dir eine dieser Kompetenzen in deinem Gründerteam fehlt, dann sollte dein erster Mitarbeiter genau diesen Bereich abdecken.
Die größte Gefahr bei der Mitarbeitersuche ist, immer den einzustellen, der dir am ähnlichsten ist. Das darfst du nicht machen.
Wenn du ein junger, hipper Skater bist, solltest du dir keinen anderen Skater an Bord holen, sondern zum Beispiel einen BWLer – Jemanden, der in einem Beriech gut ist, den du NICHT kannst.
Deine Mitarbeiter müssen die Seiten beleuchten, die du selbst nicht beleuchten kannst. Dafür musst du dir erst einmal bewusst sein, worin du gut bist.
Und vor allem musst du dir eingestehen, worin du nicht gut bist.
Du darfst vor den Dingen, in denen du nicht gut bist, nicht die Augen verschließen und behaupten, sie seien nicht wichtig. In den meisten Fällen sind sie nämlich doch wichtig.
Du brauchst immer einen ganzheitlichen Blick auf dich und dein Leben. Deshalb musst du dich auch manchmal zwei Wochen zurückziehen und darüber nachdenken, ob man wirklich gerade das tut, was man tun will.
OME: Hast du an Coachings teilgenommen, um diese Erkenntnisse zu gewinnen, oder war das Leben dein Coach?
JOACHIM GRAF: Der Vorteil am Altern ist, dass die Summe der Fehler wächst, die man gemacht hat – und die meisten Fehler macht man kein zweites Mal.
Gerade in digitalen Märkten ist die Gefahr jedoch groß, dass Erfahrung nicht wertgeschätzt wird, weil heute sowieso alles neu und anders sei.
Das ist es aber nicht. Es ist zwar anders, aber das meiste bleibt, wie es ist und bekommt nur ein neues Gewand.
Ich bin ein Fan von dialektischen Prozessen. Es gibt eine Einheit von Widersprüchen: Du musst alles machen wie bisher – nur eben ganz anders.
Viele Dinge bleiben gleich, auch wenn sie anders sind.
Du machst beispielsweise immer noch Vertrieb. Du redest mit Leuten – zwar nicht mehr im Außendienst, sondern über Webinare oder Telefonakquise, aber der Kern bleibt gleich.
Diese Einheit von Widersprüchen musst du als Unternehmer kennen. Du musst wissen, dass viele Dinge nichts Neues sind und dass du Leute brauchst, die damit schon Erfahrung haben.
Du musst zum Beispiel Steuererklärungen abgeben. Dieses Konzept ist über 80 Jahre alt. Die Details ändern sich zwar ständig, aber das Prinzip ist noch immer gleich.
Du brauchst jemanden, der sich damit auskennt, sonst fallen dir die einfachsten Dinge auf die Füße.
Auch das Personalmanagement kann schnell zu einem Problem werden, wenn du niemanden hast, der sich damit auskennt.
Wenn du Leute einstellst, musst du bedenken, dass sie auch mal im Urlaub sind und irgendwann kündigen werden. Du brauchst jemanden, der mit Personal umgehen kann – das ist ganz normal und das ändert sich auch in der digitalen Welt nicht.
Auch digitale Unternehmen erfinden sich nicht vollständig neu. Sie verpassen den Dingen nur ein anderes Gewand.
OME: Vielen Dank für diese gute Erklärung und das tolle Gespräch.
JOACHIM GRAF: Gerne.